Die große Reformpädagogin Maria Montessori bezeichnete das von ihr entwickelte Lernmaterial für Kindergarten und Grundschule als „Schlüssel zur Welt.“ Das vollständige Zitat hierzu lautet:
„Unser Material soll kein Ersatz für die Welt sein, soll nicht die Kenntnisse der Welt vermitteln, sondern soll Helfer und Führer sein für die innere Arbeit des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein Rüstzeug, die ganze Welt und ihre Kultur zu erobern. Es ist wie ein Schlüssel zur Welt und nicht mit der Welt selbst zu verwechseln."
Auf den ersten Blick erschließt sich vielleicht nicht gleich, was Maria Montessori mit dem „Schlüssel zur Welt“ eigentlich meint. Sehen wir uns das Zitat doch einmal genauer an. Montessori-Material soll kein Ersatz, kein Surrogat für die Welt sein. Es soll nicht die Wirklichkeit darstellen oder sie simulieren. Maria Montessori hatte also einen ganz anderen Plan, als ihn viele zeitgenössische Computerspiele verfolgen. Dort werden die junge Spieler förmlich in eine Parallelwelt hineingezogen und vergessen dabei die Realität um sich herum.
Nach Montessori soll das Material soll nicht von außen mit starken Reizen in das Bewusstsein eindringen und es beeindrucken, sondern vielmehr dazu anregen, den dem Kind innewohnenden Sinn für Ordnung, Struktur und Logik zu entfalten. So baut ein Kind etwa aus den farbigen Zylindern einen Turm nach seinem ureigenen Sinn für Systematik und Ordnung. Das Kind gestaltet dabei mit dem Material nach seinen eigenen Vorstellungen und wird nicht davon überrollt, wie es etwa bei elektronischem Spielzeug leicht der Fall ist. Montessori-Material hilft vielmehr dabei, selbst aktiv und zum „Baumeister“ der Welt zu werden. Das Kind lernt dabei viel über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, folgt den eigenen Ideen und Plänen und erreicht dadurch große Zufriedenheit. Das Material ist Angebot, Aufforderung und Herausforderung zugleich. Die Initiative zur Beschäftigung liegt dabei ganz beim Kind.
Diese „innere Arbeit“ kann nur in einer Atmosphäre der Freiheit und Ermunterung passieren.
Montessori schreibt weiter, das Material solle nicht die Kenntnisse der Welt vermitteln. Gibt es einen Lehrer oder eine Pädagogin, die sich vorstellen können, mit Kindern zu arbeiten, ohne dabei die Kenntnisse der Welt zu vermitteln? Wohl kaum. Eher würden viele Lehrer genau darin ihren Auftrag sehen. Aber hier ist ja auch nur vom Material für die ersten Lebensjahre die Rede.
Das Wesen des Montessori-Materials bis zur Sekundarstufe besteht nicht darin, Wirklichkeit abzubilden, sondern es besitzt vielmehr eine eigene verborgene Wirklichkeit, die dazu einlädt, vom Kind selbst entdeckt zu werden. So findet sich in einer Montessori-Grundschule eher ein Satz Tasttäfelchen als das Modell einer Dampfmaschine. Der eigene Sinneseindruck, die eigene Erfahrung steht im Fokus des Lernprozesses, nicht die detailgetreue Abbildung der Wirklichkeit oder das Auswendiglernen von Fakten.
Das bedeutet aber keineswegs, dass die Wirklichkeit mit all ihren Beschaffenheiten und Gesetzmäßigkeiten von den Kindern ferngehalten werden soll. Das wäre genau das Gegenteil von dem, was Maria Montessori erreichen wollte. Doch im Kindergartenalter und in der Grundschulzeit setzt die Pädagogin den Fokus eindeutig darauf, ein Kind zu befähigen, die Welt selbst „erobern“ zu können. Als Heranwachsender hat es dann das nötige „Rüstzeug“ erhalten, seinen Weg in der Welt erfolgreich und erfüllend zu gehen.
Dieser pädagogische Ansatz ist durchaus zeitgemäß: Statt Fakten zu pauken ist es heute wesentlich wichtiger, mit dem Wissen, das uns jederzeit über das Internet zur Verfügung steht, kritisch, verantwortungsvoll und zielführend umzugehen.
Montessori-Material als Schlüssel zur Welt bedeutet auch, Kinder dabei zu unterstützen, das notwendige Selbstbewusstsein zu entwickeln, um selbstbestimmt und vernünftig mit den zahllosen Optionen unserer Zeit umzugehen. Wer jung gelernt hat, dass die Wirklichkeit überaus spannend ist, sobald sie nur selbst entdeckt werden darf, wird auch als Erwachsener genügend Entdeckerfreude, Pioniergeist und Kreativität haben, um neue, eigene Wege zu beschreiten. Solche Menschen aber sind notwendig, um die großen Herausforderungen unserer Zeit mutig und kreativ meistern können.
Bildnachweis: © Shutterstock/Littlekidmoment,commons. wikipedia.org, Autorin: Marie Laschitz