Heute ist ein besonderer Tag. Gewöhnlich sitze ich im stillen Kämmerchen und schreibe über Montessori. Heute aber bekomme ich Besuch von Leopold. Leopold ist 13 Jahre alt und hat das Down Syndrom. Er ist neugierig, das ein oder andere Montessorimaterial kennenzulernen. Eigentlich ist er auf so ziemlich alles neugierig. Das finde ich sehr erfrischend. Für eine Lernspielstunde habe ich einige Materialien vorbereitet. Völlig in Ordnung, dass sich Leopold dann zum Teil ganz andere Materialien heraussucht.
Auf Leopold wartet eine kleine Begrüßung, die er sich selbst erarbeiten kann. Buchstabe für Buchstabe entschlüsselt er die Worte, die auf dem Tisch liegen: HALLO LEOPOLD! Das bin ja ich! Leopold betastet die einzelnen Buchstaben und stellt sie auf der Tischfläche auf. Seine Finger spüren die unterschiedlichen Linien und Rundungen. Auf dem Tisch stehen auch vier Tierfiguren. Leopold greift sofort nach dem Hund. Er sucht die richtigen Buchstaben aus dem großen Kasten und setzt sie zu dem Wort “Hund” zusammen. Einen Lieblingsbuchstaben hat Leopold auch schon. Es ist das X. Leider gibt es wenig Wörter mit X. Zum Schluss räumt er alle Buchstaben wieder richtig in den großen Kasten ein. Diesmal hat er nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit seinen Händen und Fingern gelernt. Buchstaben kann man auch fühlen. Eine wichtige Erfahrung.
Da entdeckt Leopold in einer Ecke meine alte Schreibmaschine. Er ist sofort fasziniert von der Mechanik und untersucht die Maschine genau. Er muss richtig fest in die Tasten hauen, ganz anders als auf dem Computer. Schon bald schreibt er die ersten Buchstaben. Natürlich kein Montessori-Material, aber ein wunderbares Spielzeug, dass ganz nebenbei mit Buchstaben und Satzzeichen vertraut macht.
Als nächstes steht Mathematik auf dem Programm. Ich mache Leopold mit Kasimir, dem gefräßigen Krokodil bekannt. Kasimir hat einen untrüglichen Instinkt dafür, wo am meisten Essen zu holen ist. Beim größeren Haufen reißt er das Maul auf. So lernt er spielerisch mit den Kindern das “kleiner als”, “größer als” und “gleich”. Und wieder dürfen die Finger mitspielen. Autsch, irgendwer hat mich in den Arm gebissen! Also Kasimir haben wir heute satt gekriegt!
Die großen Stangen in der Ecke haben die Aufmerksamkeit von Leopold erregt. Wir holen die Numerischen Stangen und legen sie auf den Tisch. Zunächst wird die Zimmerdecke gemessen, dann Leopold selbst. Ganz nebenbei zählt er die Zentimeter ab. Stolze 1, 50 Meter groß ist Leopold.
Schade, für heute ist die Lernspielstunde zu Ende. Ich war überrascht, welch spontanen Zugang Leopold zu den Montessori-Materialien gefunden hat. Als technisch und praktisch veranlagter junger Mann spricht ihn haptisches Material sichtlich mehr an als nur Stift und Papier.
Zum Schluss habe ich noch eine kleine Hausführung gemacht. Besonders der Keller mit den vielen Rohren und der geheimnisvolle Zugang zum Dachstuhl haben es Leopold angetan. Vielen Dank für den schönen Besuch, Mama Ina und Leopold!
Autorin: Marie Laschitz